I’ll Be Your Mirror

 

NAN GOLDIN - Fotografien 1972-1996

 

27.2.-3.5.1998 kunsthalle wien - karlsplatz

 

 

"Ich dachte immer, daß ich niemals einen Menschen verlieren könnte, wenn ich ihn oder sie nur oft genug fotografieren würde. Meine Fotos beweisen mir jedoch, wieviel ich verloren habe."

 

Nan Goldin bezeichnet ihr Werk selbst als ihr öffentliches Tagebuch, so wie ihre Tagebuchaufzeichnungen ihr privates Tagebuch sind. Die Fotografien der 1953 in Washington geborenen und in Boston aufgewachsenen Nan Goldin erzählen von Freundschaft und Sexualität, von Nähe und Verlust. Seit fünfundzwanzig Jahren führt Nan Goldin dieses visuelles Tagebuch ihres Lebens. Die Bilder haben den Reiz der Intimität und des Schnappschusses, d.h. wir BetrachterInnen haben das Gefühl, an der abgebildeten Situation teilhaben zu dürfen, doch wir sollten uns nicht anmaßen, am Leben der abgebildeten Menschen Anteil nehmen zu können - dieses Privileg bleibt allein der Künstlerin vorbehalten. Doch Nan Goldins Fotografien sind zugleich eine Chronik der kulturellen, sozialen und sexuellen Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft seit den siebziger Jahren. Die vom New Yorker Whitney Museum of American Art zusammengestellte Ausstellung in der Kunsthalle Wien gibt erstmals einen umfassenden Einblick in das fotografische Werk Nan Goldins.

Die Ausstellung ist in zweierlei Hinsicht in drei Teile geteilt. Zeitlich: die künstlerischen Anfänge in den 70er Jahren, Goldins „wilde Jahre“ im New York der 80er Jahre und die Zeit nach dem Drogenentzug 1989; und thematisch: Fotos von Freunden und Freundinnen, die sie seit den frühen 70er Jahren begleiteten und ihr Leben dokumentieren, das fotografische Festhalten des Verlustes einiger Freunde und Freundinnen durch AIDS und Aufnahmen des Fotoprojektes „Tokyo Love“. Die Präsentation in der Kunsthalle Wien umfaßt außerdem die Multimediashow „All By Myself“, choreographierte Diaprojektionen in Verbindung mit einem von Nan Goldin zusammengstellten Soundtrack, sowie ihren, zusammen mit Edmund Coulthard 1995 für die BBC produzierten 16mm-Film „I’ll Be Your Mirror“.

 

„Ich wurde davon besessen, niemals mehr die Erinnerung an jemanden zu verlieren.“

 

Nachdem sich ihre ältere Schwester mit 18 Jahren das Leben genommen hatte, beschloß Nan Goldin, sich aus der Enge ihres bürgerlichen Elternhauses zu befreien, um nicht dasselbe Ende zu nehmen wie ihre Schwester. Sie begann zu fotografieren, zog von zu Hause aus, lebte in Boston mit Freunden und Freundinnen zusammen und begann, neue Lebensformen jenseits der familiären Bindungen und der restriktiven Moral zu erproben. Ein Teil ihrer Freunde waren Drag Queens und Goldins frühe Schwarz-Weiß-Aufnahmen huldigen den glamourösen Auftritte dieser Freunde, ihrer Faszination für Kinostars der dreißiger und vierziger Jahre, dem Rollenspiel, sich selbst neu zu erfinden, eine Identität jenseits der biologische Festlegung männlich oder weiblich zu schaffen, ein „drittes Geschlecht“ wie Goldin es bezeichnet. Habe Mut, du selbst zu sein! Diese Botschaft der Drag Queens hat Nan Goldin in ihren Bildern eingefangen und zur Maxime ihres eigenen Lebens gemacht.

 

„Mein Traum war, Modefotografin zu werden, und mein Ziel war, Tunten auf die Titelseite von VOGUE zu bringen.“

 

Fasziniert von zeitgenössischer Modefotografie lernte Goldin während ihres Studiums an der Boston „Museum School“ die Porträtisten der zwanziger Jahre, wie etwa August Sander, kennen und schätzen. Ihre Fotografien verdanken die Faszination der Intensität, die ihnen behaftet, jedoch nicht etwa einer nüchternen Sachlichkeit, sondern dem extrem persönlichen Blick, den Goldin auf Männer und Frauen wirft, die ihr nahestehen. „Bilder machen ist eine Art, jemanden zu berühren“, sagt Nan Goldin, „eine Form von Zärtlichkeit.“ Charakteristisch wie dieser Blick ist auch Goldins spezielle Kombination von Farbe und künstlichem Licht. Die üppigen Farben ihrer Bilder beschwören die schwüle Atmosphäre eines Lebensgefühls zwischen Bett und Bar, Sex und Drogen.

 

„Ich analysiere nicht, was passiert. Ich verspüre einfach den Antrieb, die Schönheit und Verletzlichkeit meine Freunde zu fotografieren.“

 

1978 ging Goldin nach New York. In Clubs zeigte sie, anfangs zu Live-Musik von Punkbands, ihre Fotos als Dia-Show. Später entwickelte sie diese Vorführungen zur selbständigen Kunstform, halb Performance, halb Fotoroman, mit einem eigens zusammengestellten Soundtrack. Daraus entstand 1981 „Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit“ (The Ballad of Sexual Dependency). Diese Enzyklopädie der Gefühle, Beziehungen und Verletzungen wurde von Nan Goldin über die Jahre hinweg immer wieder aktualisiert und fand schließlich weltweit ihren Weg in Kunstausstellungen. So wie Goldins Fotografien das Leben ihrer Freundinnen und Freunde begleiten, erzählen sie auch von ihr selbst: 1984 wird sie von einem Freund brutal zusammengeschlagen, was sie fotografisch festhielt, um es nie wieder zu vergessen; das treibt sie, während die meisten ihrer FreundInnen bereits auf Drogenentzug sind, „vom Drogengebrauch in den Drogenmißbrauch“, wodurch sie 1988 körperlich am Ende und am Boden zerstört ist, und selbst in den Entzug geht. Die erste therapeutische Aktion war, daß man ihr die Kamera nahm, und am Ende des Entzuges hatte sich Goldins Fotografie gewandelt.

 

„Ich fotografiere aus Liebe, aus meiner Vorstellung von Schönheit und Sehnsucht heraus.“

 

1989, nach ihrer Genesung und dem Verlust enger Freunde durch Aids, werden Goldins Fotos strenger und ruhiger. Nachdem sie zuerst sich selbst mit der Kamera neu entdecken mußte, entdeckt sie auch das natürliche Licht und arbeitet immer häufiger im Freien. Die Protagonisten ihrer Bilder aber sind dieselben geblieben: David, Suzanne, Sharon, Siobhan, dazu neue Freunde aus Berlin, wo sie 1991/92 als Gast des DAAD (Deutscher Akademischer Austausch-Dienst) arbeitete. Mittlerweile reicht die „Familie“ Nan Goldins bis nach Japan. Gemeinsam mit Nobuyoshi Araki verwirklichte sie dort 1994 das Fotoprojekt „Tokyo Love“.

 

 

„When I was young

I never needed anyone

and making love was just for fun.

Those days are gone ...“

 

(„All By Myself“ - in der Version von Eartha Kitt*)

 

 

 

* oder alternativ dazu in der Version von BABES IN TOYLAND!!